Kennen Sie folgende Situation: Sie schauen sich in den Nachrichten die neueste Gesetzgebung der Politik an. Hinterher schimpfen Sie: „Wie um alles in der Welt sind die darauf gekommen? Wissen die denn nicht, dass …“ Wie hätten Sie entschieden? Wissen Sie, auf welchem Wege Sie Entscheidungen treffen? Treffen Sie gern und beherzt Entscheidungen, ringen Sie mit ihnen oder vermeiden Sie sie eher ganz? Warten Sie darauf, bis jemand anderes sie für Sie trifft? Treffen Sie manchmal Entscheidungen, die andere verrückt finden? Indem wir Entscheidungen treffen, gestalten wir unser Leben. Wir erschaffen Realitäten, Wirklichkeit. Für uns selbst und für andere. Ich möchte kurz den verschiedenen Möglichkeiten Raum geben, wie Entscheidungen zustande kommen. Entscheidungen der Weg zur inneren Wahrheit.
WEGE DER ENTSCHEIDUNGSFINDUNG: KOPF ODER BAUCH?
Vertraut sind die meisten von uns mit der Überzeugung, dass man für eine Entscheidung nachdenken muss und sie dann aus logischen Überlegungen heraus trifft: eine kognitive Entscheidung. Auch die Entscheidung „aus dem Bauch heraus“ ist uns vertraut, wenn wir auf ein unbestimmtes, starkes Gefühl hören. In unserem Leben wählen wir situationsabhängig jeweils die Variante, die uns besser erscheint, und meist kommen wir damit ganz gut zurecht. Besonders im Fall von Lebenskrisen oder Krankheiten stellt sich jedoch oft die grundsätzliche Frage: „Ist das, was ich tue, eigentlich das, was ich wirklich will?“ Dann scheint das Modell Kopf oder Bauch unzulänglich und führt zu Antworten, die uns nicht zufrieden stellen. Womit hängt das zusammen?
CHANCE UND HINDERNIS: NACHAHMUNG
Egal wie groß oder klein Entscheidungen sein mögen, wir treffen sie häufig aus der Vergangenheit heraus, aus unseren Erfahrungen, und wenn das nicht ausreicht, aus dem Erfahrungswissen anderer, wie der Eltern oder anderer Bezugspersonen. Besonders die Frage nach sozialer Anerkennung hat viel Raum, Eltern und Lehrer haben Anpassung gefordert und uns gezeigt, wie man sich in der Gesellschaft zu verhalten hat. Von Anfang an haben wir geschaut, was die anderen machen und dadurch alles gelernt: sitzen, stehen, laufen, sprechen und denken. Wir haben es von den anderen gelernt, die es auch können und uns gezeigt haben, wie es geht. Es ist wunderbar, dass so etwas m.glich ist. Wir Menschen können nichts von selbst: Instinkte bringen uns nicht zum Reden, wir müssen es lernen und wir lernen die Sprache unserer Umgebung. Wenn diese nicht spricht, sprechen wir auch nicht. Wir haben aber diese wunderbare Lernfähigkeit, die in uns angelegt ist.
BEGABUNG ALS PROBLEM? DER EIGENE WILLE
Hinzukommt aber etwas anderes: Es kommt auch etwas aus uns heraus, als Impuls, als Fähigkeit oder Begabung. Hier beginnen Probleme in der Kindheit, denn nicht alles, was ein Kind aus sich heraus tut, ist gleich als Begabung erkennbar oder gefällt den Erwachsenen. Vieles wird nicht verstanden, weil die kindliche Ausdrucksweise noch unbeholfen ist. Warum will ein Kind plötzlich dieses oder jenes unbedingt? Oder anderes überhaupt nicht? Schnell wird solches Verhalten als Trotz abgetan oder als kindlicher Machtkampf missverstanden. Ist es nicht eher so, dass beides nicht zutrifft, sondern dass das Kind hier die andere Richtung übt? Kinder nehmen ungeheuer rasch auf, was ihnen von der Außenwelt zufliegt und ahmen es nach, üben es, spielen damit. Aber Kinder brauchen auch die andere Richtung: zu üben, dass etwas Eigenes aus ihnen herauskommt, was Gestalt annehmen möchte.
Hier treffen sie häufig auf Widerstand – einerseits, weil die Gestalt noch unbeholfen und deshalb nicht gut erkennbar ist, andererseits, weil diese Gestalt selten in den großen Plan der Erwachsenen passt. In diesem Moment lernt das Kind etwas Wichtiges für sein Leben: Das, was von außen kommt, soll ich nachahmen, das was von innen kommt, ist meistens unerwünscht, also schlecht. Und wichtig: Wenn ich diese „schlechten“ Dinge tue, wird mir Liebe und Geborgenheit entzogen. Da es aber Liebe und Geborgenheit sind, die das Kind zum überleben braucht, lernt es die „schlechten“ Dinge zu unterlassen. Dieses Prinzip wird von Kindergarten, Schule und Studium untermauert. Wenn junge Menschen dieses Programm durchlaufen haben, sind sie bereit für ein Leben der Nachahmung.
EINE NEUE EBENE DER ENTSCHEIDUNG FINDEN
In uns allen gibt es einen Ort, an dem wir genau wissen, wer wir sind und was wir wollen. Dort finden wir unsere eigene innere Wahrheit. Wollen wir diesen Ort kennenlernen, gilt es nach innen zu schauen, nicht nach au.en. Niemand kann uns sagen, wer wir sind und was wir wollen. Das wissen nur wir selbst, tief im Inneren. Wir spüren es im Herzen. Von diesem Ort aus zu entscheiden, ist also eine weitere Möglichkeit. Ich nenne sie die Herzens-Entscheidung.
Es ist nötig auf eine andere Stufe zu gehen, um im Inneren der eigenen Wahrheit zu begegnen. Es kommt darauf an, die gewohnten Stimmen aus Kopf und Bauch zur Ruhe kommen zu lassen und sich zu fragen, was dann spricht. Die Stimme des Herzens kann ich nur hören, wenn ich ruhig bin und mich geborgen fühle.
Während Kopf und Bauch aus dem Erfahrungswissen der Vergangenheit schöpfen und von Nachahmung, momentanen Befindlichkeiten und Ängsten geprägt sind, hat die Ebene des Herzens das Potenzial einer umfassenderen Verbindung in die Zukunft und zur zeitlosen Wahrheit. Das Herz hat zudem Kontakt mit der „anderen“ Richtung, mit dem, was als Impuls aus dem Inneren kommt, mit dem, was ein Mensch mitbringt, mit dem, was er wirklich ist. Hier begegnet er seiner inneren Wahrheit. Und ich behaupte, dass es nicht eine von der großen echten Wahrheit abgetrennte, quasi ungültige Wahrheit ist, wie es unser wissenschaftliches Weltbild heute vorschlägt, sondern dass es ein Teil der kollektiven echten Wahrheit ist, dass hier Zugang m.glich ist zu dem, was C.G. Jung das kollektive Unbewusste nannte. Es ist gleichzeitig höchst subjektiv und dennoch verbunden mit dem großen Ganzen, im Sinne dessen, was der Philosoph Charles Eisenstein „Interbeing“ nennt – Verbundenheit oder Gemeinschaftlichkeit.
HERZENS-ENTSCHEIDUNG
Herzens-Entscheidungen kommen klar als Wunsch oder Wille im Bewusstsein an – ohne Begründung, ohne Erklärung und ohne Bedienungsanleitung, sie sind einfach da. Geben wir ihnen Raum, entsteht häufig ein umfassendes Glücksgefühl, eine ungeheure Lebensfreude, ein „Ja, das will ich!“ Das Herz ist die Heimstatt unserer Individualität, dort sind wir unverwechselbar, unersetzbar und einzigartig. Hier ist der kreative Kanal, den Martha Graham mit „Keep the channel open…“ meint. Hier sind wir verbunden mit der ureigenen Kreativität und gleichzeitig mit dem kreativen Feld der gesamten Schöpfung.
Die Stimme, die aus dem Herzen spricht, ist leise und unaufgeregt, darum überhören wir sie häufig. Die Stimmen aus Kopf und Bauch sprechen meist lauter und nachdrücklicher, weshalb wir ihnen bereitwilliger zuhören. Wenn die Stimme des Herzens spricht, ist sie klar und erzeugt Freude.
Diese Freude ist es, die so vielen Menschen in der letzten Zeit abhandengekommen ist. Nach meiner Erfahrung geht sie verloren, wenn Menschen unter Druck genötigt werden, Dinge zu tun, deren Erfüllung nichts zu tun hat mit der ihnen selbst innewohnenden Wahrheit. Eine Herzens-Entscheidung erfüllt uns mit innerem Reichtum. Eine Kraft steigt aus dem Inneren auf, die alle Hindernisse meistern wird, wenn wir diese Entscheidung wirklich und wahrhaftig annehmen. Von Menschen wie Gandhi, Astrid Lindgren oder Dietrich Bonhoeffer, die diesen Weg aus sich herausgegangen sind, können wir dies lernen, auch wenn unsere eigenen Entscheidungen vielleicht nicht eine solche historische Tragweite haben werden. Wahrheiten, die aus dem Inneren aufsteigen, sind immer persönlich und damit subjektiv im besten Wortsinn. Darum gelten sie grundsätzlich nur für die eigene Person.
Versuchen wir andere Menschen von der eigenen Wahrheit zu überzeugen, werden wir rechthaberisch. Wahrheiten, die für viele Menschen Gültigkeit haben, besitzen eine Art magnetischer Anziehungskraft. Sie verbreiten sich von selbst. Inhalte, die unter Druck oder Zwang verbreitet werden müssen, besitzen solch eine Wahrhaftigkeit nicht, es sind Ideologien.
DIE HERZENS-ENTSCHEIDUNG IN DER PRAXIS
Es gibt kein Patentrezept zur inneren Wahrheit, denn da diese einzigartig ist, ist es auch der Weg dorthin. Trotzdem gibt es Werkzeuge, die vielen Menschen helfen, darum möchte ich sie hier auflisten:
- berührende Musik hören
- tanzen
- singen
- spielen
- malen/basteln/kreativ sein
- schreiben
- Texte lesen, die das Innere bewegen
- Achtsamkeitsübungen/Meditation
- sich mit Tieren oder der Natur verbinden
Manchen Menschen geht es erst einmal schlecht, wenn sie sich auf die Ebene des Herzens einlassen. Sie hören zum Beispiel eine berührende Musik und müssen weinen. Sie wenden dann ein, dass ihnen „das“ nicht gut tut und lenken sich von der Berührung ab, mit lauter Musik, Fernsehen, Videospielen und dergleichen mehr. Wenn wir die Stimme des Herzens gewohnheitsmäßig ignorieren und mit Äußeren Reizen überdecken, sammelt sich in diesem inneren Raum Druck. Das Herz reagiert dann gleichsam wie eine Person, der man nie aufmerksam zuhört: Entweder schweigt es entmutigt oder es redet ohne aufzuhören. Es spricht von vergangenen Schmerzen, die nicht gefühlt werden wollten, von Zorn, der nicht geäußert werden durfte und Impulsen, die nicht gelebt wurden, weil sie zu wenig angepasst waren und deshalb keine Hoffnung auf Erfolg zu haben schienen.
Nicht immer is sofort eine Freude, auf diese Ebene zu kommen
Es braucht Geduld sich alles anzuhören, was das Herz sagt und worüber es sich beklagt. Das Herz wird uns – wie eine wirkliche Person, wie ein Gegenüber – möglicherweise auch nicht sofort glauben, wenn wir ihm mitteilen, wir wollten jetzt auf es hören. Wir müssen erst sein Vertrauen wecken. In meiner eigenen Arbeit nutze ich Gespräche, musikalische Prozessbegleitung und energetische Heilweisen, um mich der inneren Wahrheit eines Klienten zu nähern – doch in meiner Wahrnehmung ist es vor allem die Haltung, mit der ich Menschen begegne, die das Heilsame ausmacht. Sie signalisiert: Ich meine dich. Ich bin für dich da, für das, was du in deinem tiefen Inneren bist.
Auch das ist nicht für jeden Klienten angenehm. Manchen Menschen macht es Angst, und die tiefen Muster der Anpassung sind stärker als der Wunsch sich selbst zu entfalten. Einen Weg zum eigenen Inneren und zur dort im Herzen lebendigen Wahrheit zu finden, ist das Ziel der gemeinsamen Arbeit. Von dort steigen tragfähige Antworten auf. Die Heilung besteht darin, sie erkennen zu lernen, ihnen zu vertrauen und eigen-ver-antwortlich zu leben. Dazu braucht es mitunter Mut. Wären auch Politiker in der Lage, ihre Entscheidungen nicht nach den Interessen von Lobbyisten zu richten, sondern nach der inneren Wahrheit – und dies auch jedem Bürger zuzugestehen – g.be es meiner Meinung nach mehr Frieden im Land. Möglicherweise würde nicht jede Entscheidung begrüßt, aber ihre Sinnhaftigkeit wäre erkennbarer und würde viele Menschen erreichen.
Die andere Ebene erreichen – ein Weg
Setzen Sie sich bequem hin und schließen Sie die Augen. Nehmen Sie einige Atemzüge lang bewusst Ihren Atem wahr. Stellen Sie sich jetzt vor, von dem Raum, in dem Sie sich befinden, geht eine imaginäre Tür ab. Sie treten durch diese Tür und finden dahinter einen langen geraden Gang, der von einem diffusen Licht erfüllt ist. Sie folgen dem Gang und stehen an seinem Ende vor einer massiven Tür, zu der zwei Stufen hinaufführen. Sie steigen die Stufen hinauf und öffnen die Tür – sie ist unverschlossen und lässt sich leicht Öffnen.
Nun betreten Sie ein rundes Turmzimmer, das nach allen Richtungen hin Fenster hat, durch die Sonnenlicht herein flutet. In seiner Mitte befindet sich eine Sitzgelegenheit, auf der Sie sich niederlassen. Stellen Sie sich jetzt und an diesem Ort die Frage, die Sie zu entscheiden haben oder halten Sie sich einfach in Ruhe an diesem Ort auf. Beenden Sie die .bung, indem Sie danken und den Raum auf demselben Weg verlassen, auf dem Sie gekommen sind. Sie können ihn jederzeit und von überallher wieder aufsuchen. Natürlich können Sie diese Imagination in jeder für Sie stimmigen Art ändern und für sich selbst anpassen.
Artikel veröffentlicht in Natur und Medizin 02/2022.